Der Wolf, der Wald und die wahren Sorgen der Landleute

Einst, in einem Land, das so grün war wie frisch gemalt und wo die Berge bis in die Wolken reichten, lebten fleissige Landleute, deren grösster Schatz ihre Herden waren. Diese Hirten und Bauern arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, doch eine Sorge lag schwer auf ihren Schultern: der Graue Jäger, der Wolf.

Die Kunde vom Wolf, der hin und wieder ein Schaf riss, verbreitete Unruhe. Viele riefen nach dem Jäger mit der silbernen Kugel, der den Wolf zur Strecke bringen sollte, auf dass Friede einkehre.

Da trat ein weiser Ratsherr der Landwirtschaft vor das Volk. Er trug ein Buch bei sich, das war gefüllt mit den neuesten Erkenntnissen und dem Erfahrungsschatz vieler Jahre. Er sprach mit klarer, fester Stimme:

„Liebe Landleute, wir sind einem Irrtum aufgesessen, der uns teuer zu stehen kommt. Wir dachten, das Messer und die Flinte würden uns helfen, doch siehe, die Zahlen sprechen eine andere Sprache! Die Abschüsse des Grauen Jägers mildern die Not nicht, sie können sie gar verschlimmern, wie der kalte Winter einen noch kälteren Frühling bringt. Ein geschossener Wolf mag für kurze Zeit Ruhe bringen, doch ein neuer, unerfahrener Jäger nimmt seinen Platz ein und rückt den Hürden noch näher.“

Er zeigte auf seine Tafeln und sprach weiter: „Die wahre Rettung liegt im Herdenschutz! Seht, wo die Schafe unbewacht auf der Weide stehen oder die Zäune morsch sind, da schlägt der Wolf zu. Doch wo starke Hütehunde wachen, deren Bellen so kräftig ist wie Donnerhall, und wo die Zäune aus starkem Elektro-Draht gewoben sind, da kehrt der Graue Jäger um, ohne Schaden anzurichten. Das bezeugen alle Rechnungen des Bundes – die Risszahlen sinken deutlich, wo achtsam gewacht wird.“

Manche murrten und sagten, das sei zu mühsam und zu teuer. Doch der Ratsherr entgegnete: „Wir werden euch nicht allein lassen! Wir setzen uns ein für eine faire Bezahlung dieser Mühen, damit der Herdenschutz kein Luxus, sondern ein fester Pfeiler eurer Wirtschaft wird.“

Und er enthüllte noch ein anderes Geheimnis: „Wisset auch, der Wolf ist nicht euer größter Feind. Das Leid eurer Tiere kommt zumeist von innen. Die meisten sterben an Krankheit, lästigen Parasiten oder Unglücksfällen, nicht durch den Zahn des Wolfs. Die Risse des Grauen Jägers sind kaum mehr als ein kleines Haar in der Suppe, machen nur zwei von hundert Verlusten aus.“

Zuletzt aber sprach er von einer wundersamen Gabe des Wolfs: „Er ist ein Hüter des Waldes! Indem er das zu zahlreich gewordene Schalenwild wie Rehe und Hirsche dezimiert, gibt er den jungen Bäumen Raum zum Wachsen und Gedeihen. Er fördert die Artenvielfalt und sorgt für einen gesunden Wald, der auch euren Höfen und Feldern zum Segen gereicht.“

Von Stund an änderten die Landleute ihren Sinn. Sie verstanden, dass man den Lauf des Flusses nicht mit blossen Händen aufhalten kann, aber ein festes Ufer bauen muss. Sie hörten auf, den Wolf als alleiniges Übel zu sehen, und begannen, ihre Herdenschutzhunde wie treue Gefährten zu ehren und ihre Zäune sorgfältiger zu errichten.

Und so geschah es, dass der Wolf seinen Platz in den weiten Wäldern behielt, die Herden sicher auf den Weiden grasten und die Landwirtschaft auf einem neuen, klugen Kurs zu blühen begann. Sie lebten in Achtung voreinander, und wenn der Wolf in der Ferne heulte, wussten die Bauern, dass ihr Herdenschutz stark genug war, um ihre Schafe zu schützen, und der Graue Jäger ihnen auf seine Weise auch Gutes tat.